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  • AutorenbildMelek Yaprak

Was uns bewegt - Das ist nicht mehr meine Stadt

Aktualisiert: 8. Jan. 2021

Wir befinden uns in Westdeutschland. Wir sind im Jahr 2020. Wir haben seit Tagen kein Wasser und kein Strom. Und auch das Tageslicht scheint es nicht mehr zu geben. Der Himmel ist grau, die Bäume haben schon lange keine Blätter mehr. Schatten fliegen über uns. Helikopter - Vorboten schlechter Nachrichten.

Ich verlasse meine Wohnung in Köln auf dem Weg zu meiner ganz persönlichen Mission. Das, was ich sehe entspricht einem Science-Fiction-Film. Die wenigen Menschen, die sich auf den Straßen bewegen haben ihren Kopf geneigt, auf der Suche nach Brennholz oder Wasser. Wir befinden uns in einer globalen Krise und in einer örtlichen Katastrophe. Irgendjemand hat von oben den Schalter ausgemacht, alle Energieressourcen abgeknipst. Es gibt zwei Arten von Menschen, die mir begegnen. Viele Arme oder wenige Reiche. Dazwischen gibt es nichts mehr.


Was ist hier eigentlich los? Ich betrete einen Wald voller Mobilfunkmasten. Kölner Karnevalskostüme sind als abschreckende Vogelscheuchen vor die Häuser platziert worden. „Bleib weg!" ist die Message. Ich versuche mit irgendjemanden Augenkontakt aufzunehmen, es ist nahezu unmöglich, weil keiner mehr dem anderen in die Augen schaut oder nur noch Augen für sein scheiß Tinderprofil hat, welches hell in der Dunkelheit der Straßen aufleuchtet. Ich spreche jemanden an, will fragen, was hier passiert ist, doch der schubst mich weg. Auf jeder Stirn ist das Wort „Einsamkeit“ tätowiert. Andere wiederum tragen das Wort „Gier“ als Krone. Viele Menschen wohnen auf dem kalten Boden in meinem wohlhabenden Veedel Agnes.


Ein Erdbeben Stärke 7 in meiner zweiten Heimat Türkei. Eine enthauptete Frau und zwei weitere tote Menschen in Nizza. Die Nachrichten werden visuell in überdimensional auf die Agneskirche projiziert. Meine Sorgen erscheinen mir jetzt lächerlich. Ein bisschen beschämt wische ich mir meinen roten Chanel-Lippenstift von den Lippen und schmiere ihn auf einen türkisen Porsche mit Düsseldorfer Kennzeichen, der fast surreal hier im grauen Bild erscheint. Ich habe mich noch nie so einsam gefühlt. Und mein Rucksack voller Liebe wird langsam immer schwerer.


Mir scheint, als ob der Himmel sich um paar Meter verschoben hat Die Menschen sind seltsam verformt, sie tragen Lautsprecher am Kopf statt ihre Ohren Irgendwer hat wohl am Eingang das Ortsschild vertauscht Das ist nicht meine Stadt, alles sieht hier so anders aus Ich erkenne nichts wieder, dort drüben zum Beispiel - das graue Haus Das war mal total bunt, doch jetzt tragen sie die Farben aus der Stadt hinaus (Credits: Pallett Ain’t my home)

Ich will nicht noch mehr Geld, ich will nicht noch mehr Ansehen und möchte keine weitere Bewunderung, wie gut ich doch mein Leben alleine meistere. Ich will einfach nur, dass keine Kinder mehr leiden müssen, keine Benachteiligungen mehr, keine kollektive emotionale Geiselnahme über Menschenseelen mehr. Keine Angst mehr schüren, bitte.


Ich folge weiter meiner anfänglichen Intention. Ich suche eins der 105 geflüchteten Kinder aus griechischen Flüchtlingslagern und deren Familienangehörige, die im September in Nordrhein-Westfalen untergekommen sind. Eigentlich suche ich den kleinen Khalil. Ich möchte ihm Deutsch beibringen. Endlich finde ich ihn! Der kleine Mann versteht mich nicht, schaut mich aber mit seinen grossen braunen Augen an, so als würde er mir sagen: "Abla, geh nicht. Bleib bei mir." Ich hocke mich zu ihm mit einem Fussball in der Hand. Er hat so eine wunderbare Energie, die von ihm strahlt. Ich küsse ihn auf die kleine Stirn. Auf seine Seele. Ich streichel seinen Kopf. Und plötzlich kommt die Sonne raus. Sie wärmt uns wieder. Ich nehme ihn in den Arm und plötzlich wachsen grüne Blätter an den Bäumen. Der Himmel wird blau, aus den Zombies werden Menschen und man kann das Herz in ihrer Brust voller Inbrunst klopfen sehen. Blut fließt durch die Adern, jeder nimmt den Nächstmöglichen in dem Arm. Aufrichtig, verletzbar, ohne Maske. Man sieht sich wieder an, in die Augen, redet den anderen gut zu. Und plötzlich fließt wieder Wasser und es gibt wieder Strom.


Alleine sein in schweren Zeiten ist scheiße. Wenn jeder nur in seinem eigenen kleinen Kosmos etwas für Bedürftige tut, sich um jemanden kümmert, sich für eine gute Gesellschaft einsetzt, dann können wir eine lange Kette der Menschlichkeit erzeugen.

(Die Inspiration für diesen Artikel kam mir mit dem Hören des Songs „Ain’t my home“ von Pallett https://www.youtube.com/watch?v=d6Olcb-Tl58

Die Fotos in der unteren Slideshow sind tatsächlich von mir alle an einem Tag geschossen worden. Das war die Stimmung an diesem Tag.)


Ersterscheinung bei www.stadtmagazin.com


#Köln #Kolumne #Corona #Leben #Agnesviertel

Khalil und ich
Melek und Khalil. Foto: Melek Y.


Momentaufnahme Köln Hansaring
Sachen, die man nur noch loswerden will. Mediapark Köln. Foto: Melek Y.

Momentaufnahme Ebertplatz Köln
Momentaufnahme Ebertplatz Köln; Foto: Melek Y.

Momentaufnahme Ebertplatz Köln; Foto: Melek Y.
Momentaufnahme Mediapark Köln; Foto: Melek Y.

Selbst Comic sieht heute gruselig aus. Neumarkt Köln; Foto: Melek Y.

Der Winter macht auch in Düsseldorf kein Halt. Foto: Melek Y.

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