Melek Yaprak
Die Träne im Auge des Betrachters
Aktualisiert: 27. Mai 2021
Es kann sich nur um Jahre handeln, bis mein Buch „Rampensau und feiges Huhn auf Reisen“ fertig ist. Es geht um das Thema Dates, aber diesmal nicht mit Männern, sondern mit der Welt. Meloschkis Reiseabenteuer. Befremdlich unterhaltsame Geschichten zusammengefasst in einem Buch. Noch nie war mein Reisebedürfnis so stark wie jetzt, deswegen ziehe ich hier ein paar Kapitel vor.
Früher war Reisen mal selbstverständlich. Jede Reise begann bereits aufregend beim Einstieg in eine Boeing. Langstreckenflug. Man wusste, man würde nach Einnahme einer Valium-Tablette (die man bei der letzten Reise durch Bangkok in einer zwielichtigen Apotheke gekauft hatte) in einem fernen, ganz anderen Land aufwachen. Wow!
Bei der Durchsicht meiner Fotos fiel mir auf: Auf jedem war ich lachend zu sehen. Alle Aufnahmen zeugten von glücklichen Momenten. Als die Zeit von YouTube und Instagram kam, füllte ich artig meinen Reiseblog mit Aufnahmen der schönsten Spots und den hübschesten Menschen der Welt.
Moment mal... Ich bin durch 25 Länder gereist. Es gab doch auch Momente, die richtig beschissen waren. Wo ich erbärmlich geheult habe. Wo Tränen geflossen sind, auf Pässe, auf Flughafensitze, in Taxis, ja ich erinnere mich sogar an eine Situation in Bangkok auf der furchtbaren Khao San Road, wo ich dem verblüfften Tuk-Tuk Fahrer schlosshundheulend in dem Armen lag.
Warum gab es keine Fotos davon?!
Ich sag Euch warum: Erstens, man hat in diesem Moment sicherlich weitaus schwerwiegendere Probleme, als seine verheulte Fresse in ein Selfie zu halten.
Zweitens - und das ist eigentlich der echte, traurige Grund: Verwundbarkeit ist nicht IN. Es bringt keine Follower. Wer will das schon sehen? Warum entblößen? Warum Schwäche zeigen? Warum sich in der Verletzbarkeit mit der tiefsten Wunde öffentlich zur Schau stellen? Hier die Gegenfrage: Warum nicht?
Die tendenziell eher negative Bewertung der archetypische Ausdrucksweise des Weinens ist messbar an den deutschen Synonymen: heulen, flennen, plärren und jammern. Alles net sexy.
Ich z. B. weiß genau, wann meine Tränen fließen: In jeglichen Gotteshäusern dieser Welt, vor Maria Statuen, wenn ich ein Neugeborenes in der Hand halte und ganz bitter bei einem gebrochenem Herzen.
Ich recherchiere auf Instagram. Hashtags #weinen oder #cry zeigen kaum Bilder auf. Und dann passierte etwas, das hat mir den Atem weggehauen. Beim Hashtag #tears meldet sich Instagram persönlich mit folgender Nachricht:
Können wir helfen?
Beiträge mit den Wörtern oder Tags, nach denen du gerade suchst, können auf Verhaltensweisen hindeuten, die Schaden anrichten oder gar zum Tod führen können.
Falls du gerade schwere Zeiten durchmachst, würden wir dir gerne helfen.
Aha, so ist das also. Möglicherweise werden Bilder auf denen Menschen weinend zu sehen sind erst gar nicht zugelassen. Die Wegrationalisierung von Wahrheiten im vollen Gange. Jeder muss doch mal weinen.
Das lässt Meloschki investigativ naiv keine Ruhe. Auch Google geizt mit Porträts echter Tränen. Ja ich weiß: Das Erleben der Verletzung erfolgt meist in einem geschlossenen, privaten Raum ohne die Anwesenheit anderer Personen, die das vielleicht gerade dokumentieren könnten. Aber wir haben dieses Dreckshandy doch die gaaanze Zeit in der Hand! Warum nicht schnell ein Selfie vom intimsten aber ehrlichsten Moment aufnehmen? Es wird doch sonst alles andere geshared und geliked: Intimrasuren, Arschgeweihe, Eiterpickel, Kot vom Engmaulfrosch… Will man sowas sehen???
Ich gehe alle 5471 Bilder meiner Reisen durch… Sie geben Aufschluss darüber, wo ich was mit wem und warum gemacht habe. Und wenn ich zwischen den Zeilen lese, weiß ich, dass es Momente gab, wo dicke, dicke Tränen geflossen sind. Brasilien z. B. ist ein Land, dem ich viele Tränen vermacht habe.
Kapitel "Erste Tränen in Rio de Janeiro"
In Sao Paulo teilte ich mir ein Vierbettzimmer zusammen mit Seungbo aus Korea, Cecile aus Fortaleza und den überaus attraktiven Franzosen Fabian (ausgesprochen Fabijöööönn) aus Paris. Alle drei Menschen entpuppten sich als abenteuerliebende Schätze.

Seungbo Shim aus Korea hat ohrenbetäubend laut geschnarcht. In der ersten gemeinsamen Nacht versuchte Fabijön in seiner französisch adretten Art Schnarcho Seungbo Shim zu wecken und ihn übertrieben freundlich darauf hinzuweisen, bitte doch nicht zu schnarchen: „Pardön, äh exquisemua monsieur…“ Ich beobachtete ihn, wie er in
seinem V-Neck Shirt und sexy Boxershorts versuchte den Kollegen zu wecken. Lange konnte ich es mir nicht ansehen. Ich griff ein. „Fabijön, ich zeig dir wie das geht“. Ich schmiss mein Kissen rüber zu Seungbo. „Seungbo, shut the fuck up and lay to the side!“ Schnarcho Seungbo Shim schrak auf und gab Ruhe. Fabijön staunte nicht schlecht. „Merci“, und um uns war es geschehen. Am nächsten Tag lud er mich zum Kaffee ein. Tagsüber sah er noch besser aus. Und dieser französische Akzent in seinem Englisch war irgendwie bezaubernd.

Mein Gott war ich verknallt. Wir reisten zusammen von Sao Paulo in die schönste Stadt der Welt: Rio de Janeiro. Unsere gemeinsame Zeit war kurz. Sehr kurz. 7 Tage genauer gesagt. Danach verliebte er sich in seine bildhübsche Portugiesisch Lehrerin: Der Inbegriff einer brasilianischen Schönheit mit strahlend weißen Zähnen und einem weitaus sexigeren Bikini in Tangaform als mein High-Waist Verschnitt, um meinen damaligen Weißbrot-Hintern zu verdecken. Hab ich Rotz und Wasser geheult. Die Momentaufnahme davon existiert leider nur in meinem Kopf. Kein einziges Foto davon, wie ich am Strand der Copa Cabana heulend „The Girl from Ipanema“ höre.
Also suche ich weiter.
Da! Da ist ein Foto mit Tränen! Wieder Rio de Janeiro.

Dieses Foto ist entstanden kurz nach dem ich erfahren hatte, dass mein Bankkonto geplündert wurde. Hier ein sehr wertvoller Tipp: Falls ihr nach Rio reist hebt kein Geld von einem Bankautomaten ab. Es gibt wohl Trickdiebe die die Automaten so präparieren, dass sie irgendwie an Dein Konto kommen und alles abheben können. Selbst, wenn sie nicht in Besitz Deiner Bankkarte sind. Ich hatte am Automaten schon so ein komisches Gefühl.
Ich war schon viel gereist und sensibilisiert auf Gefahrenfallen. Je nach Land muss man seine Bargeldvorkehrungen unterschiedlich treffen. Zu viel bei sich haben ist nicht gut, zu wenig ebenfalls nicht. In diesem Falle ließ es sich nicht verhindern und ich musste an den ATM. Der Schock war groß, als sich eine vierstellige Summe in eine einstellige null verwandelte. Alles weg! Meine ganze Reisekasse einfach gestohlen! Stellt Euch die Situation vor: Ihr sitzt heart broken ganz weit weg von zu Hause in einem Hostel, eigentlich am schönsten Fleck der Erde und seit auch noch entmachtet, weil Eure ganze Kohle weg ist! Noch nicht einmal zum Flughafen wäre ich gekommen, geschweige denn mir für den Tag etwas zu essen hätte kaufen können. Die Fortsetzung dieser Geschichte gibt es später. Wenn Ihr Euch in den Newsletter eintragt, verpasst Ihr keine Folge.
Aber wie ist nun das Foto entstanden?
Wenn Engel reisen treffen sie andere Engel. Auf Reisen passieren so viele magische, ganz unglaubliche Dinge, die einen daran glauben lassen, dass das Universum für einen arbeitet und nicht gegen.
Mein Engel hieß Isidora. Isidora und ich trafen uns bereits vor dem Vorfall eines Abends in Rios schönen Viertel Santa Teresa in mitten vieler feiernder Menschen. Habt ihr das schon mal gehabt: Ihr begegnet einen fremden Menschen und ihr wisst sofort: We are soulmating.
Isidora kam ursprünglich aus Belgrad und hatte sich in Rio niedergelassen, um als Künstlerin erfolgreich zu werden. Während meiner Reise durch Rio portraitierte sie mich. Mit all meinen Wunden, Freuden, Ängsten und natürlich auch Tränen. Hier ist es also: Ein echtes Abbild meiner Person in völliger Authentizität. Kein Filter, keine Retusche, kein Glam. Immer, wenn ich es anschaue fühle ich mich lebendig. Auch das bin ich/ sind wir. Ich bin so, so gespannt wieviele Menschen diesen Artikel aufgrund des Heulfotos anklicken. Aus Neugier, aus Voyeurismus, aus Mitgefühl.
Thank you Isi, for this shot.

„Verletzlichkeit ist die Entstehung von Innovation, Kreativität und Veränderung.“ (Brené Brown)
Wie steht Ihr zum Thema Verletzlichkeit in der Öffentlichkeit oder die Bereitschaft es überhaupt zu zeigen?
Das erste Mal, als ich mich mit diesem Thema beschäftigte war 2010 im Museum of Moden Arts in New York. Die Künstlerin Marina Abramovic stellte sich sechs Tage schweigend auf einem Stuhl als Verletzlichkeits-Spiegel zur Verfügung. Lange Blicke in fremde Augen. Der Ausbruch der Tränen vor hunderten von Besuchern, als sich überraschend ihr getrennter Partner vor sie setzte bewegt bis heute noch die Herzen der Menschen. (https://youtu.be/OS0Tg0IjCp4 Minute 2:18)
Der Ted Talk der US-Professorin Brené Brown hat mich nachdenklich gestimmt.
„Vulnerability is the core of shame and fear and our struggle for worthiness, but it's also the birthplace of joy, of creativity, of belonging, of love.
The ability to feel connected, is neurobiologically that's how we're wire.
…
And shame is really easily understood as the fear of disconnection: Is there something about me that, if other people know it or see it, that I won't be worthy of connection? No one wants to talk about it, and the less you talk about it, the more you have it. What underpinned this shame, this "I'm not good enough. We all know that feeling: "I'm not blank enough. I'm not thin enough, rich enough, beautiful enough, smart enough, promoted enough." The thing that underpinned this was excruciating vulnerability."
…
Have the courage to be imperfect.
Ja genau. Have the courage to show your imperfection.